Ganz so gefährlich, wie es sich anhört, ist meine Geschichte nicht. „Unter“ ist hier nicht im Sinne des Berlinischen „mitten mank“ gemeint. Die Geier, die ich erlebe, wenn ich in meinem Exil – oder gar, wie jetzt, in Quarantäne – auf Jamaika bin, kreisen einfach nur täglich hoch über mir am blauen Himmel zwischen ein paar weißen Wolken. Das bin ich gewöhnt. Es sieht großartig aus.
Ich weiß, dass es diese Geier, die die Einheimischen „John Crow“ nennen, nur hier auf Jamaika gibt. Ich habe auch schon einmal eine Gruppe von ihnen aus der Nähe gesehen. Sie hatten es sich auf den kahlen Ästen eines dürren Baums gemütlich gemacht.
Das Leben im ländlichen Jamaika ist ziemlich eintönig, wenn man nicht von der üppigen Natur fasziniert ist, von ihren vielerlei Formen und Farben, die sich ständig im Wind bewegen und verändern. Und wenn dann gar Quarantäne angesagt ist, man nicht mal ans Meer fahren kann, freut man sich auch über kleine Abwechslungen. Für mich war es geradezu sensationell, als eines Nachmittags die Geier plötzlich im Tiefflug zwischen den Bäumen meines Gartens hindurch preschten, hin und her, immer wieder. Zwei ließen sich sogar auf Ästen nieder. Das ging so ca. 10 Minuten lang. Dann war der Spuk vorbei. Sogar den Nachbarn fiel das auf. Sie deuteten das Verhalten als Vorboten von Regen. Aber das war es nicht. Es war etwas anderes.
Zwei Tage später musste ich an die Geier denken. Es roch plötzlich nach totem Tier. Der Geruch kam immer mal wieder mit einem Windhauch angeweht. Ich konnte nicht definieren, aus welcher Richtung. Das dauerte ein paar Tage und ich vergaß es wieder.
Es gibt hier viel im Garten zu tun, denn alles wächst wie wild, besonders die Schlingpflanzen. Immer wieder muss ich Sträucher, die ich angepflanzt habe, von dieser wahren Pest befreien. Bei so einer Gelegenheit entdeckte ich in einem Strauch, dicht am Boden, zwischen die Stämmchen geklemmt, ein Stück Fell. Das Fell gehörte einem toten Tier, einem Mungo (mungoose), der sich hier wohl zum Sterben verkrochen hatte. Mungos sind (außer Ratten und Mäusen) die einzigen wildlebenden Säugetiere Jamaikas. Sie sehen ähnlich aus wie Wiesel. Vielleicht war der Mungo verletzt gewesen oder auch einfach altersschwach, denn das Fell sah grau und struppig aus und der Mungo muss verhältnismäßig groß gewesen sein.
Ich störte ihn nicht, überließ ihn dem Verrotten. Alles um ihn herum war trocken und ohne Geruch.
Nun war mir klar, warum die Geier mich besucht hatten. Sie hatten den Tod sofort gerochen, nicht erst nach zwei Tagen. Aber die Beute war zu versteckt, um sie zu erreichen. Sie mussten aufgeben.
Ich freute mich sehr, als kurz nach diesem Erlebnis ein hellbeiger junger Mungo über die Wiese lief.