
Seit Jahren wusste ich, dass es in Frankfurt im Club Voltaire immer am ersten Sonntag im Monat „Wirtshaussingen“ gibt, einen Singeabend für Alle. Weil ich gerne singe, hätte mich das eigentlich sehr interessiert. Dummerweise sagte mir aber jemand, dort würden die Liedtexte an die Wand projiziert oder auch Kopien der Texte verteilt. Das hat mich abgeschreckt. Ich war von Kindheit an gewohnt, Liedtexte im Kopf zu haben und somit „frei“ zu singen. Singen nach Text war in meiner singenden Familie streng verpönt.
Vergangenen Dezember habe ich mich aber doch überreden lassen, mir diese Veranstaltung mal anzuschauen. Oh, war gar nicht so schlecht! Ich hatte mich mit dem Rücken zum Text gesetzt, kannte viele Lieder und es hat Spaß gemacht, mitzusingen. Also bin ich im Januar zum ersten Singen im Jahr 2019 wieder hingegangen. Diesmal war es noch besser, denn es herrschte bei vollem Haus eine Bombenstimmung. Alle waren wohl noch etwas in Feiertagslaune und alle haben begeistert gesungen.
An diesem Abend habe ich ständig an meine 100-jährige Freundin denken müssen, mit der ich mich in den letzten Jahren oft zum Singen getroffen hatte. Dieser Abend und dieses Repertoire wären so ganz nach ihrem Geschmack gewesen. Wer hätte denn gedacht, dass es so etwas heutzutage gibt, dazu noch in einer Kommerz-Stadt wie Frankfurt?
Jahrzehntelang hatte ich den Eindruck, dass Singen in Deutschland verpönt, ja, beinahe schon suspekt ist. Ich war froh, meine liebe alte Freundin Else zu haben, eine Freundin meiner Eltern, mit der ich die alten Lieder singen konnte. Die „alten Lieder“, von denen viele eine Zeit lang von den falschen Leuten gesungen worden waren, wodurch dann das Singen als solches ganz und gar in Verruf geraten war.
Mein Vater war ein Liedermacher der Jugendbewegung. Als es noch kein Google gab, aber doch schon irgendeine Suchmaschine, gab ich seinen Namen ein, Otto Leis. Ich war geschockt, als dort ein holländischer Index von nationalsozialistischen Texten erschien. Es ging um ein Liederbuch, „Wenn die bunten Fahnen wehen“, das mein Vater zusammen mit seinem Freund Alf Zschiesche herausgegeben hatte. Kaum veröffentlicht, war es beschlagnahmt und vernichtet worden. Und das wurde nun als nationalsozialistisch eingestuft?
Die beiden Brüder meiner Freundin Else (Anton und Wilhelm Lauterbach) und Elses Ehemann (Erich Schliephacke) waren die besten Freunde meines Vaters. Mit ihren Brüdern und noch einem anderen Freund hatte er in den 30er Jahren im Rundfunk gesungen als „Die vier Fahrtenbrüder“. Der Freundeskreis traf sich in der Nachkriegszeit oft und natürlich wurde immer gesungen. Man unterhielt sich, man sang, man unterhielt sich. Wenn ich mich heute mit jemandem lange unterhalte, kommt für mich immer der Punkt, an dem ich das Singen vermisse.
Und nun gibt es dieses „Wirtshaussingen“ und hat offenbar gute Resonanz! Das Repertoire ist breit gefächert, von „Hoch, auf dem gelben Wagen“ über „Where have all the flowers gone“ bis „Bandiera rossa“.
Es freut mich und es tröstet mich etwas, denn meine liebe Else hat es nun doch bei den 100 Jahren bewenden lassen. Am 9. Februar ist sie verstorben. Eine Zeitzeugin von Jugendbewegung, Wandervogel, Krieg und Nachkriegszeit, politisch interessiert und sozial engagiert, hat uns verlassen. Sie war nicht das, was man eine „Persönlichkeit des öffentlichen Lebens“ nennt. Aber wenn man weiß, dass sie jahrelang ehrenamtlich Telefonseelsorge gemacht hat und sich bei der Arbeiterwohlfahrt engagiert hat, dann weiß man auch, dass sie sich nicht nur im kleinen Rahmen, um Familie und Freunde, sondern auch um das öffentliche Leben verdient gemacht hat.
Unser letztes gemeinsames Singen war übrigens auf seine Weise ein „Wirtshaussingen“. „In der Kneipe am Moor“ haben wir gesungen, in einer Kneipe im Osthafen. Das war ein gelungener Abschluss. Else und ich hatten denselben Liedschatz. Das war wunderbar. Nun bleibt mir immerhin das „Wirtshaussingen“ im Club Voltaire. Vielleicht werde ich dort doch manchmal auf die Wand mit den Texten schauen müssen…
